Alleinverdiener: Reichte früher wirklich ein Gehalt?
Drei Etagen, zwei Autos, ein Gehalt: Früher, so kommt es einem heute manchmal vor, war Wohlstand so einfach. Beinahe wehmütig blicken junge Menschen in der ganzen Bundesrepublik mittlerweile auf die 80er, 90er und frühen 2000er, als es scheinbar genügte, wenn einer im Haushalt das Geld verdiente. Üblicherweise war das der Mann, während sich die Frau um Haushalt und Kinder kümmerte. Nur etwas mehr als die Hälfte aller Frauen zwischen 15 und 65 Jahren ging beispielsweise 1992 einer Erwerbsarbeit nach, heute liegt die Quote bei knapp 74%. Kein Wunder, könnte man nun einwerfen, können sich doch immer weniger Familien das Alleinernährer-Modell leisten. Während ein Durchschnittsgehalt früher für Miete, Urlaub und Lebensmittel zu reichen schien, kommt man heute selbst mit zwei Vollzeit-Gehältern gerade so über die Runden, der Traum vom Einfamilienhaus mit Garten scheint unerreichbar. Doch haben es junge Leute heute wirklich schwerer als ihre Eltern? Oder trügt der Schein und geht es ihnen in Wahrheit sogar besser?
Alleinverdiener-Familien eher von Armut bedroht
Wie gut können Familien heute noch von einem Gehalt leben? Für jeden Haushalt kann man das freilich nicht beantworten, es hängt schließlich von den individuellen Ausgaben und Einnahmen ab. Mit Durchschnittswerten lässt sich aber sehr wohl hantieren: Im Schnitt stehen Familien finanziell besser da, wenn beide einer Erwerbsarbeit nachgehen. Das fand die Bertelsmann-Stiftung 2018 heraus und bilanzierte Beunruhigendes: „Wenn Mütter nicht erwerbstätig sind, droht ihren Kindern Armut“, resümierten die Experten und verwiesen auf die Studie „Aufwachsen in Armutslagen“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Darin verglichen die Forscher die finanzielle Situation von Familien mit einem Alleinverdiener und solchen, in denen beide Eltern erwerbstätig waren. Während weniger als zwei Prozent der Kinder von erwerbstätigen Müttern (in Voll- oder Teilzeit) Erfahrung mit Armut machten, waren es in Familien, in denen die Mutter nicht erwerbstätig war, ganze 32%.
Daraus sollte man freilich nicht schließen, dass Familien mit nur einem Ernährer stets schlechter aufgestellt sind als solche, in denen beide Vollzeit arbeiten. Festhalten kann man aber: Das Risiko, in Armut zu geraten, ist mit dem Ein-Verdiener-Modell tendenziell höher. Als arm oder armutsgefährdet definiert die Bertelsmann-Stiftung Kinder und Jugendliche, deren Familien weniger als 60% des „mittleren äquivalenzgewichteten Haushaltseinkommens“ verdienen, also das Nettoeinkommen inklusiver staatlicher Transferleistungen. Im Jahr 2019 lag das nach Informationen des Ifo-Instituts in Deutschland bei 23.300€.
Zwei Gehälter, das kann man aus der Studie schließen, sind für einen nicht geringen Teil von Familien schlichtweg notwendig, um das Familienleben zu finanzieren. Die Frage ist: War das früher so anders? Kam man vor 30 Jahren tendenziell eher mit nur einem Gehalt hin als heute?
Gehälter verdoppelt seit Anfang der 1990er
Um das zu ermitteln, muss man den Blick auf zwei Variablen lenken: die durchschnittlichen Einkommen (nach Steuern) und die Preise. Zwischen 1992 und 2022 stiegen nach Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) die Nettoeinkommen in Deutschland im Mittel (Median) von monatlich 905€ auf 2.000€. Anders gesagt: Der durchschnittliche Haushalt in Deutschland hat heute mehr als doppelt so viel Geld in der Tasche wie vor 30 Jahren. Nur können wir uns davon leider nicht doppelt so viel kaufen wie damals.
Waren und Dienstleistungen, Mieten, Lebensmittel, Urlaubsreisen, Kleidung und etliche andere Posten verteuerten sich seit 1992 ebenfalls. Wie stark, verrät einem der Verbraucherpreisindex, der die durchschnittliche Preisentwicklung aller Waren und Dienstleistungen im Zeitverlauf misst. 1992 stand der VPI noch bei 65 Punkten, im Jahr 2022 bei 110. Das heißt: Die Preise stiegen binnen 30 Jahren um 69% und damit schwächer als die Löhne. Erhebungen des SOEP, das seit den 1980ern deutsche Haushalte befragt, bestätigen das: Demnach stiegen die mittleren Einkommen nach Inflation, also real, zwischen 1992 und 2022 von 1.544€ auf 2.000€ netto im Monat und damit um knapp 30%. Mit anderen Worten: Der durchschnittliche Haushalt in Deutschland hat heute – trotz gestiegener Lebenshaltungskosten – ein Drittel mehr Geld zur Verfügung als Anfang der 1990er. Eigentlich müssten Familien also heute sehr viel besser mit einem Gehalt auskommen als damals.
22 Minuten arbeiten für ein Päckchen Butter
Dass wir uns im Schnitt mehr leisten können, kann man auch an der Kaufkraft ablesen, die das Statistische Bundesamt für die Jahre 1970 und 2022 gegenübergestellt hat: Während der Durchschnittsverdiener (mit Durchschnittsgehalt) für ein Kilo dunkles Mischbrot vor knapp 50 Jahren noch durchschnittlich 16 Minuten arbeiten musste, waren es 2022 nur noch zwölf Minuten. 250 Gramm Butter kosteten damals 22 Minuten Arbeitszeit, heute sind es nur noch sieben.
Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) blickte 2018 sogar noch weiter zurück, nämlich bis in die 1960er Jahre: „Musste man 1960 für einen einfachen Schwarz-Weiß-Fernseher noch mehr als 339 Stunden arbeiten“, schreibt der Statistiker Christoph Schröder in einem Kurzbericht, „bekommt man heute für den Einsatz von gut 24 Nettostundenverdiensten einen Smart-TV mit hochauflösendem 40-Zoll-Bildschirm.“ Auch wenn der Wohlstandszuwachs nicht für alle Güter und Dienstleistungen in gleichem Maße gilt (für einen Friseurbesuch muss man heute laut IW im Schnitt sogar eine halbe Stunde länger arbeiten als 1960), halten die Forscher fest: „Der Warenkorb, für den man 1960 noch eine Stunde arbeiten musste, ist heute bereits nach 19 Minuten verdient“.
„Früher musste eine Familie von einem Gehalt leben“
Mit Blick auf die Durchschnittswerte stimmt es also: Junge Paare in der Gegenwart haben einen größeren finanziellen Spielraum als ihre Eltern und Großeltern. Dass Familien es heute tendenziell schwerer haben, ist damit eine Illusion. Das bekräftigt auch Georg Cremer, Ökonom und Autor, der dazu 2022 eine Analyse bei Zeit Online veröffentlichte. Die Einkommensverhältnisse von Haushalten hätten sich seit den 1960er Jahren keineswegs verschlechtert, heißt es darin. „Das Argument, man habe früher von einem Gehalt noch leben können, zielt offensichtlich auf die Nachkriegsdekaden und verklärt das damals dominante männliche Ernährermodell in der alten Bundesrepublik“, schreibt Cramer. „Früher musste eine Familie von einem Gehalt leben.“ Vielen Familien sei schlichtweg gar nichts anderes übrig geblieben, allein schon wegen fehlender Betreuungsangebote, die heute selbstverständlich sind.
„Wenn heute in Sozialdebatten betont wird, früher habe ein Gehalt ausgereicht“, so Cremer, „dann schwingt zugleich die Behauptung mit, die Einkommensverhältnisse hätten sich verschlechtert. Das aber ist grober Unfug.“ Auch Cremer rechnet vor, wie viel mehr Kaufkraft der Durchschnittsverdiener von heute besitzt: „Ein durchschnittlich verdienender Arbeitnehmer musste 1960 für einen Herrenanzug noch 67 Stunden arbeiten, heute sind es etwa zwölf Stunden.“
Nicht alle stehen heute besser da
Wieder stolpert man hier über das Wörtchen „Durchschnitt“, und dazu muss man etwas einwerfen: Es stimmt, dass Arbeitnehmer im Schnitt finanziell besser dastehen als vor 30, 40 oder gar 60 Jahren. Die Löhne stiegen seither im Mittel so stark an, dass sie die Inflation überholten, das heißt: Trotz Inflation können wir uns heute sehr viel mehr leisten als früher. Doch gilt all das eben nur für den Durchschnittsbürger mit Durchschnittsgehalt und Durchschnittsausgaben.
So zeigen die Daten des SOEP zum Beispiel auch: Für Menschen mit niedrigem Einkommen verbesserte sich die Lage in den vergangenen 30 Jahren längst nicht so deutlich wie für die oberen Einkommensklassen. Zwischen 1992 und 2015 beispielsweise, das berichtete die Bertelsmann-Stiftung 2018, sei das Median-Äquivalenzeinkommen für Paare mit einem Kind pro Jahr und nach Inflation im Schnitt um ein Prozent gestiegen. Bei niedrigen Einkommen habe die Steigerung nur 0,8% p.a. betragen, bei hohen dagegen 1,4% p.a.
Untere Zehntel kann sich heute weniger leisten
Glaubt man Erhebungen des IAB und des Bundesfinanzministeriums aus dem Jahr 2017, die damals exklusiv der ZEIT vorlagen, soll sich eine kleine Gruppe an Haushalten inzwischen sogar weniger leisten können als früher. Konkret: Für das unterste Zehntel der Lohnverteilung sollen die Bruttogehälter von Mitte der 1980er bis Mitte der 2010er um 60%, die Preise aber um 65% gestiegen. Die Lohnsteigerungen wurden also von der Inflation aufgefressen, und das bedeutet: Zumindest ein Teil der Arbeitnehmer hat zurecht den Eindruck, dass ein einziges Gehalt früher eher reichte als heutzutage.
Nichtsdestotrotz gilt für den breiten Schnitt der Gesellschaft: Mit den Gehältern und Preisen von früher war es schwieriger, von nur einem Gehalt zu leben. Warum kommt es einem trotzdem vor, als wäre das Gegenteil der Fall?
Der Standard ist ein anderer
Vor allem, weil wir uns nicht mehr so schnell zufriedengeben. Wir sind nicht mehr bereit zu leben wie im Jahr 1970, 1980 oder 1990. Die Standards sind 2024 schlichtweg anders. Zum Beispiel leben wir heute im Schnitt auf mehr Platz als früher, wie das Statistische Bundesamt ermittelt hat: Ende 2021 bewohnte eine Person in Deutschland im Schnitt 47,7 qm, 1991 waren es lediglich 34,9 qm. Im Schnitt haben wir heute also knapp 37% mehr Platz als vor 30 Jahren. Auch in anderen Dingen legen viele junge Leute und Paare heute andere Maßstäbe an als früher. Fuhren die Eltern in den 90ern einmal im Jahr mit dem Auto nach Italien, erscheint es heute beinahe normal, wenn die Mittzwanziger monatelang durch Südostasien reisen. Drei- bis viermal pro Woche ins Restaurant zu gehen oder sich Essen vom Restaurant liefern zu lassen, ist für viele Haushalte inzwischen nichts Außergewöhnliches, während man früher ganz selbstverständlich selbst kochte. Kurzum: Das, was wir heute als „normalen“ oder „mittleren“ Lebensstandard bezeichnen würden, wäre 1990 vielfach Luxus gewesen.
Es stimmt also, früher reichte vielfach ein Gehalt, um über die Runden zu kommen. Oftmals würde es aber auch heute noch genügen – man müsste bloß die Messlatte ein klein wenig verschieben.
Kommentare (1)
A
Anonym
sagt am 12. Dezember 2024
Hallo! Die Infos mögen für den Lebensunterhalt stimmen. Aber ein Baugrundstück oder Haus kannst du dir mit einem Gehalt in Tirol nicht mehr leisten. Das konnte der Großvater als Meister noch. Meine Ki der nicht mehr. Statistik....
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