Arbeiten die Deutschen weniger oder trügt die Statistik?
Ein erster Blick auf die Statistik
Laut Eurostat beträgt der Durchschnitt der Wochenarbeitszeit im Jahr 2023 in Deutschland 35,1 Stunden. In Relation zum EU-Durchschnitt von 37,4 Stunden pro Woche und in Anbetracht der klassischen 40-Stunden-Woche erscheint das ziemlich wenig. Nur Dänemark und die Niederlande liegen in der Statistik noch hinter Deutschland, während Griechenland, Polen und Rumänien mit je über 40 Stunden die vorderen Plätze belegen.
Auch im historischen Vergleich sank die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland in den vergangenen Jahren immer weiter. 2008 lag sie bei 35,9 Stunden, 15 Jahre später nur noch bei 35,1 Stunden. Ausgehend von diesen beiden Statistiken scheint die Konklusion klar: In Deutschland wird immer weniger gearbeitet, insbesondere im Vergleich mit anderen EU-Ländern.
Für Verwirrung könnte in diesem Zusammenhang allerdings eine Statistik des DIW sorgen, laut der das jährliche Gesamtarbeitsvolumen 2023 mit knapp 55 Milliarden Stunden ein Rekordhoch erreicht hat. In Deutschland wird also immer weniger gearbeitet, aber gleichzeitig so viel wie nie? Wie passen diese konträr klingenden Schlussfolgerungen zusammen?
Alles eine Frage der Statistik?
Die Antwort liegt in der differenzierten Interpretation der Statistiken. Es werden die durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden betrachtet, diese sind ein Durchschnitt pro Kopf. Man teilt folglich die gesamten Arbeitsstunden pro Woche durch die Anzahl aller Erwerbstätigen. Es gibt also zwei Variablen, die sich verändern und so den Durchschnitt der Wochenarbeitsstunden beeinflussen können.
Wenn nur die Anzahl der Erwerbstätigen steigt, sinken die durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden pro Kopf, da eine gleichbleibende Stundenzahl auf mehr Köpfe verteilt wird. Steigt nur die Zahl der gesamten Arbeitsstunden, dann steigen auch die durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden pro Kopf.
Komplizierter wird es, wenn sich beide Variablen verändern. Dann kommt es darauf an, welche Größe den stärkeren Einfluss hat. Ohne einen detaillierten Blick auf die Veränderung der einzelnen Variablen lässt sich das Steigen oder Sinken des Durchschnitts nicht eindeutig interpretieren.
Mehr Frauen sind erwerbstätig
Betrachten wir zunächst die Zahl im Nenner, also die Anzahl der Erwerbstätigen. Hierzu gibt es natürlich auch ausführliche Datensätze, aus denen hervorgeht, dass die Erwerbstätigkeit seit 1995 bei Frauen von knapp 58% auf über 77% gestiegen ist, bei Männern von 78% auf 85%. Und auch in absoluten Zahlen ausgedrückt steigt die Anzahl der Erwerbstätigen: 2023 beläuft sich die Zahl auf etwa 46 Millionen erwerbstätige Personen in Deutschland, während es 1995 nur etwa 38 Millionen waren.
Im Vergleich zu den anderen EU-Staaten ist die Quote der erwerbstätigen Frauen erfreulich hoch: Nur in Estland, Schweden, den Niederlanden, Finnland und Litauen sind noch mehr Frauen erwerbstätig als in Deutschland. Der EU-Durchschnitt liegt bei gut 70%. Auf den letzten Plätzen finden sich Rumänien, Griechenland und Italien.
Für die durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden pro Kopf bedeutet eine Steigerung der erwerbstätigen Köpfe – ceteris paribus – ein Absinken des Durchschnitts. Allerdings hat sich laut der Studie des DIW augenscheinlich auch die Variable im Zähler verändert, also die gesamten Wochenarbeitsstunden. Das erscheint auch logisch: Wenn mehr Menschen arbeiten, sammeln sie insgesamt auch mehr Arbeitsstunden.
Die Teilzeitquote steigt
Nun zu der Variable im Zähler, der Menge der gesamten Arbeitsstunden. Ein Faktor, der diese Größe erheblich beeinflussen kann, ist die Teilzeitquote. Diese ist sowohl bei Männern als auch bei Frauen in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen. So arbeiten knapp die Hälfte der weiblichen Erwerbstätigen 2023 in Teilzeit, bei Männern etwa jeder Neunte. 1995 waren es bei den Frauen etwa ein Drittel und nur 3% bei männlichen Erwerbstätigen.
Insgesamt lag die Teilzeitquote im Jahr 2023 in Deutschland bei knapp 29%. Im europäischen Vergleich reicht das für den dritten Platz, nur in den Niederlanden und in Österreich wird noch mehr in Teilzeit gearbeitet. Belgien und Dänemark landen hinter Deutschland auf dem vierten und fünften Platz. Der EU-Durchschnitt liegt bei gut 17%. Auffällig ist, dass die Länder, die im Teilzeitquoten-Ranking die ersten Plätze belegen, im Vergleich der durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden überwiegend auf den letzten Plätzen zu finden sind. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass eine hohe Teilzeitquote für eine niedrigere durchschnittliche Wochenarbeitszeit sorgt.
Vollzeit vs. Teilzeit im EU-Vergleich
Ein schlechtes Abschneiden im Vergleich der durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden pro Kopf könnte also unter anderem daran liegen, dass die Teilzeitquote in den jeweiligen Ländern entsprechend hoch ausfällt. Das reduziert vergleichsweise die gesamten Arbeitszeitstunden im Zähler, während die Anzahl der Erwerbstätigen im Nenner dennoch weiter ansteigt. In der Statistik der Wochenarbeitsstunden werden Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte allerdings zusammengemischt, sodass dieser Aspekt nicht zum Vorschein kommt.
Um ein differenziertes Bild zu erhalten, kann man die Wochenarbeitsstunden zwischen Teilzeit und Vollzeit trennen. Vergleicht man nur die Wochenarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten, dann liegt Deutschland mit 40,3 Wochenarbeitsstunden fast gleichauf mit dem EU-Durchschnitt von 40,4. Und auch in der isolierten Statistik zu den Teilzeitbeschäftigten liegt Deutschland mit 22,1 Wochenarbeitsstunden im europäischen Mittelfeld und nur knapp unter dem EU-Durchschnitt von 22,5 Stunden.
Aus dieser Perspektive wirken die Zahlen nicht so dramatisch wie in der vermischten Statistik zu Beginn. Betrachtet man die durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden isoliert nach Voll- und Teilzeit, liegt Deutschland bei beiden nah am europäischen Durchschnitt. Wie kommt es dann, dass Deutschland im Ranking nach unten durchgereicht wird, wenn man die beiden Statistiken kombiniert?
Interpretation des EU-Vergleichs
In Deutschland steigt die Anzahl der erwerbstätigen Frauen, viele davon arbeiten in Teilzeit. Auch bei Männern ist die Teilzeitquote gestiegen. Insgesamt gibt es mehr Erwerbstätige, die aber zu mehr als einem Viertel in Teilzeit arbeiten. Sowohl bei der Quote der erwerbstätigen Frauen als auch bei der Teilzeitquote liegt Deutschland im EU-Vergleich auf den vorderen Plätzen.
Die Anzahl der Erwerbstätigen ist gestiegen, der Anteil derjenigen, die in Teilzeit arbeiten, allerdings auch. Dadurch steigt bei der Berechnung des Durchschnitts pro Kopf der Nenner stärker als der Zähler, was rein mathematisch dazu führt, dass der Durchschnitt sinkt. Betrachtet man den Zähler, also die Gesamtzahl der Arbeitsstunden isoliert, ist dieser aber trotzdem gestiegen – dank mehr erwerbstätiger Frauen und Männer, die mehr Arbeitszeit sammeln.
In anderen EU-Ländern ist die Teilzeitquote wesentlich geringer, sodass dort auch mit weniger Erwerbstätigen eine hohe Anzahl an Wochenarbeitsstunden erreicht werden kann – da vorwiegend in Vollzeit gearbeitet wird. Dadurch ist der Durchschnitt pro Kopf höher als in einem Land mit hoher Teilzeitquote wie Deutschland. Durch die Vermischung von Erwerbstätigen in Voll- und Teilzeit wird die Statistik verzerrt.
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Umrechnung in Vollzeitäquivalente
Um die verzerrende Wirkung einer hohen Teilzeitquote zu veranschaulichen, hier ein vereinfachtes Beispiel: In einem Jahr waren 100 Leute erwerbstätig, alle in Vollzeit. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit pro Kopf beträgt folglich 40 Stunden (4.000 Stunden/100 Erwerbstätige). Im darauffolgenden Jahr kommen 50 weitere Erwerbstätige hinzu, die alle in Teilzeit mit 20 Stunden pro Woche arbeiten. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit pro Kopf sinkt damit auf 33,3 Stunden pro Woche (5.000 Stunden/150 Erwerbstätige).
Dabei ist niemand fauler geworden, im Gegenteil: Mehr Menschen arbeiten und die gesamte Wochenarbeitszeit ist gestiegen. Die Verzerrung der Statistik beruht darauf, dass der Nenner stärker steigt als der Zähler, weil bei der Anzahl der Erwerbstätigen nicht zwischen Voll- und Teilzeit differenziert wird. Dies kann umgangen werden, indem man die Teilzeitbeschäftigten in sogenannte Vollzeitäquivalente umrechnet.
Im Beispiel von oben entsprechen 50 in 20-Stunden-Teilzeit arbeitende Personen einer Arbeitsleitung von 1.000 Stunden. Für dieselbe Arbeitsleistung benötigt man 25 Vollzeitbeschäftigte. Führt man die Rechnung mit dieser Anpassung durch, bleibt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei 40 Stunden (5.000 Stunden/125 Vollzeitäquivalente).
Irreführende Durchschnitte
Zwar stimmt die Aussage, dass in Deutschland pro Erwerbstätigem im Durchschnitt weniger gearbeitet wird. Allerdings ist die Interpretation dieses vergleichsweise niedrigen Durchschnitts nicht: „Die Deutschen sind faul geworden“. Ein tieferer Blick in die Zahlen lässt erkennen, dass mehr Faktoren eine Rolle spielen. Vor allem die hohe Teilzeitquote verzerrt die Statistik.
Zahlen lügen zwar in der Regel nicht, aber sobald mehrere Zahlen vermischt, dividiert oder ins Verhältnis zu anderen Zahlen gesetzt werden, wird die Interpretation komplexer. Deshalb können insbesondere Durchschnitte und Prozentzahlen schnell missverstanden werden und zu irreführenden und falschen Interpretationen und Konklusionen führen. Traue deshalb keiner Statistik, die du dir nicht selbst genau angeschaut hast. Statistiken können einen schnell in die Irre führen und vorschnelle Schlussfolgerungen können sich bei differenzierterer Betrachtung als falsch herausstellen.
Kommentare (10)
m
maier
sagt am 10. November 2024
Es ist sicher gut, etwas hinter die Zahlen zu schauen. Danke dafür. So ganz zufrieden macht mich das allerdings noch nicht. Aus meiner Sicht wäre noch eine Differenzierung bei den Stunden bei Teilzeit zwischen Frauen und Männern interessant. Vermutlich gibt es das noch interessante Unterschiede. Und insgesamt macht es ja keinen Sinn, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Interessant ist doch, dass Deutschland - bei aller Differenzierung der Statistik - im Vergleich mit einigermaßen vergleichbaren IndustrieLändern immer abgeschlagen und unter dem Durchschnitt rangiert. Vielleicht sind die anderen doch etwas klarer darin wie Fortschritt geht??
A
Anonym
sagt am 09. November 2024
Es kommt nicht auf die Arbeitszeit an, sondern auf die Produktivität. Die Wochenarbeitszeit sagt null dazu aus.
C
Christoph
sagt am 09. November 2024
Solche Statistiken mangeln doch schon an der Datenbasis. Wo gibt es eine Datenbasis die alle Beschäftigungsverhältnisse eines Landes mit allen relevanten Kenngrößen beinhaltet (Vollzeit, Teilzeit, geringfügige Beschäftigung ...)? Jetzt müssten auch noch die geleisteten Überstunden mit in die Bewertung fließen - woher die Daten nehmen? Es wird seit Jahren nicht geschafft eine gesetzliche Vorgabe zur Erfassung der geleisteten Arbeitsstunden zu schaffen. Die Wahrheit sieht, meines Erachtens nach, komplett anders aus. Aufgrund teilweiser mangelnder Effektivität und schwachsinnigem Bürokratismus kann sich dies aber nicht in der Gesamtleistung der Wirtschaft widerspiegeln. Würde man dies verbessern, dann wären auch solche Statistiken als Diskussionsgrundlage in internationalen Unternehmen unsinnig.
M
Max
sagt am 08. November 2024
Danke für den Artikel, aber “die Leute arbeiten nicht weniger, nur mehr in Teilzeit” ist kein besonders starkes Argument, oder hab ich was überlesen 😂
Markus Schmidt-Ott
Autor
sagt am 08. November 2024
Ja, du hast überlesen, dass in Summe mehr gearbeitet wird und die höhere Teilzeitquote auf die höhere Frauenerwerbstätigkeit zurückzuführen ist. Also, es arbeiten insgesamt mehr Menschen.
A
Anonym
sagt am 08. November 2024
Habe das Schlusswort nicht ganz verstanden. Natürlich "verzerrt" die Teilzeit die Statistik,aber faktisch arbeitet eine Arbeitskraft in Teilzeit auch weniger, wodurch der der Durchschnitt pro Kopf gesenkt wird. Auf irgendeiner Art und Weise lässt sich sagen das Deutsche Volk ist weniger fleißig ist als früher. Schließlich ist das Arbeiten in Teilzeit eine bewusste Entscheidung weniger zu arbeiten.
K
Karsten
sagt am 08. November 2024
Nein, es werden meinem Verständnis nach nur Erwerbstätige betrachtet. Beispiel: in einer Familie ist ein Elternteil 40h erwerbstätig gemeldet und eins gar nicht. Damit ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit pro erwerbstätig gemeldeter Person 40h. Entscheiden sich hingegen beide, halbtags zu arbeiten, sind beide mit je 20h erwerbstätig gemeldet. Der Schnitt beträgt also 20h pro erwerbstätige gemeldeter Person. Zusammen tragen sie in diesem Beispiel dieselbe(!) Erwerbstätigkeit bei, obwohl der Schnitt nur halb so hoch ist. Wenn beide auf 30h pro Woche aufstocken, also z.B. auf 6h pro Tag oder drei Tage halbtags und zwei Tage Vollzeit pro Woche, weil z.B. die Kinder nach der Schule nun in den Hort gehen oder ein Elternteil von der privat zuhause unterstützen Pflege in die Heimpflege gewechselt ist (oder was auch immer…) tragen sie der Volkswirtschaft sogar mehr erwerbsmäßige Arbeit bei (zusammen 60h pro Woche) als in einem klassischen Rollenmodell wo nur eine Person einer Erwerbstätigkeit nachgeht und ohnehin rechtlich nicht dauerhaft auf über 48h pro Woche aufstocken darf. Das Problem mit Statistiken ist oft nicht die Statistik an sich, sondern wie man sie interpretiert bzw. ob sich jemand auf isolierte Teilaspekte stürzt, die aus dem Kontext gerissen ein falsches Bild abgeben. „Die Deutschen sind faul geworden“ zieht halt mehr Leser als „Die Deutschen teilen sich die Erwerbsarbeit mehr untereinander“. Nur der Vollständigkeit halber: erwerbstätige Arbeit umfasst nicht alle Arbeit. Wer sich zum Beispiel um Kinder, Eltern, Nachbarn oder das Gemeinwohl kümmert, oder für sich selbst sein eigenes Heim aufwertet, arbeitet ebenfalls. Das wird aber in dieser Statistik hier nicht erfasst.
M
Marius
sagt am 08. November 2024
Deine Schlussfolgerung kann ich nicht nachvollziehen. Im Artikel ist Durchschnitt pro Kopf erwähnt, gemeint ist aber der Durchschnitt pro Arbeitskraft. Um zu messen wie "fleißig" eine Bevölkerung ist, müsste man sich die geleisteten Arbeitsstunden pro Einwohner im arbeitsfähigen Alter anschauen. Ein kleines Beispiel anhand eines 2-Personen Haushalt. In Situation A arbeitet Person 1 Vollzeit (40h) und Person 2 gar nicht. Dann ist die Teilzeitquote 0%. In Situation B arbeiten beide Personen Teilzeit (30h). Dann ist die Teilzeitquote 100%. In Situation B wird aber insgesamt mehr Arbeit geleistet.
A
Anonym
sagt am 09. November 2024
Ich habe es noch selten erlebt, dass zwei 50%-Teilzeitkräfte ins Summe gleich viel Arbeit leisten, wie eine Vollzeitkraft. Es wäre daher auch schwierig eine Nation mit viel Teilzeit mit einer Nation mit viel Vollzeit zu vergleichen, indem man nur die geleisteten Stunden hochrechnet.
j
jugi
sagt am 08. November 2024
Mal abgesehen von den ganzen unbezahlten Überstunden, die noch dazu kommen... faul ist da nur die Wirtschaft, die die Leute nicht anständig entlohnt.
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