Wahrheit und Wirklichkeit: Stimmt die Inflationsrate?
Prozentpunkte können auf die Stimmung schlagen – oder sie erheblich aufhellen. Danach klang es Anfang Oktober: „Verbraucher können durchatmen“, vermeldete das Magazin Focus, nachdem das Statistische Bundesamt für September eine Inflationsrate von 4,5% bekannt gegeben hatte. 1,6% weniger als einen Monat zuvor. Von einer „lang ersehnten Erleichterung“, sprach Robert Greil, Chefstratege bei der Privatbank Merck Finck gegenüber der Morgenpost. Die Oktober-Zahlen versprechen jetzt weitere Entschleunigung. Um nur noch 3,8% sollen die Preise zwischen Oktober 2022 und Oktober 2023 gestiegen sein, meldete das Statistische Bundesamt. Doch wie viel kann und sollte man auf diese offiziellen Zahlen eigentlich geben? So fragen sich einige Verbraucher und hegen Zweifel an den Messmethoden der Statistiker. Sie wittern verzerrte Ergebnisse und glauben an eine in Wahrheit viel höhere Teuerungsrate. Andere fürchten gar, bewusst hinters Licht geführt zu werden. Was allerhand wäre. Schließlich dient die Inflationsrate nicht nur dazu, Verbrauchern einen Überblick und Medien markige Schlagzeilen zu verschaffen. Sie ist auch die Basis für viele wirtschaftliche und geldpolitische Entscheidungen, etwa die Höhe der Leitzinsen. Wie berechtigt ist das Misstrauen also?
Wie die Inflationsrate berechnet wird
Vorhersehen kann die Preisentwicklung niemand. Daher bezieht sich die Inflationsrate auch stets auf die Vergangenheit. Sie zeigt an, wie stark die Preise im Schnitt im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen sind. Oder anders gesagt: Wie sich der Verbraucherpreisindex (VPI) in diesem Zeitraum verändert hat. Denn von diesem Preisbarometer leitet sich die Inflationsrate ab. Eine Inflationsrate von 4,5% im September bedeutet demnach, dass sich sämtliche Waren und Dienstleistungen seit September 2022 durchschnittlich um 4,5% verteuert haben. Doch wie ermittelt man eine solche Zahl?
Verlauf des Verbraucherpreisindex
Rund 300.000 Einzelpreise
Am Anfang steht das Sammeln etlicher Einzelpreise. Jedes Bundesland entsendet gegen Mitte des Monats ein paar Dutzend Preisermittler: Ehrenamtliche, die für eine Aufwandsentschädigung Einzelpreise im Supermarkt, im Schuhgeschäft oder beim Metzger erfassen. Mehr als 300.000 Einzelpreise aus 700 verschiedenen Güterarten werden auf diese Weise nach Informationen des Statistischen Bundesamts jeden Monat gesammelt. Die Daten liefern die Preisermittler ans Statistische Landesamt, um die Auswertung kümmert sich anschließend das Statistische Bundesamt. Einen großen Teil der Arbeit erledigen inzwischen Online-Programme. Per sogenanntem Web Scraping werden viele Preise automatisiert erfasst.
Nur ein Bruchteil aller Güter
300.000 Einzelpreise sind eine ganze Menge. Dennoch sind sie nur ein Bruchteil von dem, was in Deutschland über die Ladentheken geht oder an Dienstleistungen in Anspruch genommen wird. Das kommt unter anderem daher, dass nicht sämtliche Produkte einer Güterkategorie in den VPI einfließen, sondern jeweils die beliebtesten ihrer Klasse. So steht am Ende etwa das helle Weizenbrötchen stellvertretend für die Kategorie Brötchen. Oder die Vollmilchschokolade für die Kategorie Tafelschokolade.
Gewichtung nach Anteil an Haushaltsausgaben
Zudem fließen nicht alle Produkte und Dienstleistungen gleichermaßen in den Verbraucherpreisindex ein. Ein Gut wird umso stärker gewichtet, je relevanter es für einen durchschnittlichen Haushalt in Deutschland ist. Festgehalten sind die Ausgaben-Trends im sogenannten Wägungsschema, das wiederum auf Grundlage einer Verbraucherstichprobe erstellt wird: Alle fünf Jahre listen 60.000 Teilnehmer akribisch auf, wofür sie ihr Geld ausgeben. Auf diese Weise erstellt das Statistische Bundesamt regelmäßig einen fiktiven Warenkorb, der den durchschnittlichen Konsum eines Haushalts in Deutschland repräsentieren soll. Ein Beispiel: Der durchschnittliche deutsche Haushalt gibt nach aktuellem Wägungsschema 0,7% seines Einkommens für Schuhe und 1,9% für Tabakwaren aus. Mit gleichem Gewicht fließen die beiden Posten anschließend in den Warenkorb ein. Und an dieser Stelle lässt sich die erste kritische Rückfrage stellen: Kann ein fiktiver Warenkorb wirklich die Lebenswirklichkeit der Bundesbürger widerspiegeln?
Entspricht das Wägungsschema der Realität?
Das aktuelle Wägungsschema des VPI basiert momentan auf Daten von 2020. Mit anderen Worten: Was der Durchschnittshaushalt im Coronajahr 2020 kaufte, gilt nach wie vor als Messlatte für die Berechnung des VPI. Normalerweise wird das Wägungsschema alle fünf Jahre einer Revision unterzogen und den Gewohnheiten angepasst. Die Frage ist: Genügt das? Schließlich können extreme Preissteigerungen oder besondere Ereignisse die Konsumgewohnheiten teils stark verschieben. Etwa die Leute bei den Heizkosten sparen oder die Klopapiernachfrage durch die Decke gehen lassen.
Bei der jüngsten Gewichtung entschied sich das Statistische Bundesamt daher für einen Sonderweg: Das aktuelle Wägungsschema basiert offiziell auf dem Jahr 2020, entstand aber aus Durchschnittsdaten der Jahre 2019 bis 2021, wie das Statistische Bundesamt gegenüber Finanzfluss erklärt. Zudem würde regelmäßig der Warenkorb aktualisiert und Einzelprodukte ausgetauscht. „Es gehen immer diejenigen Einzelprodukte in die Preisbeobachtung ein, die aktuell häufig gekauft werden. Deshalb wird der Warenkorb laufend aktualisiert, unabhängig von der Revision“, so ein Sprecher der Behörde.
Wohnkosten „deutlich unterrepräsentiert“
Die Inflationsrate soll die Entwicklung der Lebenshaltungskosten abdecken – tut das aus Sicht einiger Kritiker aber nur ungenügend. Ein wiederkehrender Streitpunkt ist das Thema Immobilien. Während Mietpreise und Nebenkosten enthalten sind, werden selbst genutzte Wohnungen und Häuser teilweise ausgeklammert. So fließen sie zwar in den deutschen VPI ein, aber nicht in den harmonisierten Verbraucherpreisindex, den HVPI, den das europäische Statistikamt Eurostat für jedes EU-Land errechnet und an dem sich etwa die Notenbanken zur Einschätzung der Preisstabilität orientieren. In Deutschland betrug der HVPI im September 4,34% im Vergleich zum Vorjahresmonat.
Nach bisheriger Ansicht der Geldpolitiker zählen Eigenheime zu den Vermögensgegenständen, auch wenn sie selbst bewohnt werden. „Immobilien werden den Investitionen zugeordnet und sind keine Konsumausgaben“, erklärt das Statistische Bundesamt auf Nachfrage. „Damit fallen sie aus dem Erfassungsbereich der Verbraucherpreisstatistik.“ Ein Fehler, meint etwa das DIW in Berlin: „Kosten für Wohnen machen für viele Haushalte einen großen Teil der Ausgaben aus. Dies ist auch der Fall, wenn der Wohnraum nicht gemietet wird, sondern in eigenem Besitz steht“, heißt es in einer Publikation von 2021. Die Wohnkosten seien im Verbraucherpreisindex „deutlich unterrepräsentiert“, heißt es weiter. Ändern ließe sich das rein theoretisch schon. Etwa, indem das Wohneigentum – wie im nationalen VPI – über einen sogenannten Mietäquivalenz-Ansatz abgebildet wird. Dabei geht man, kurz gesagt, von hypothetischen Mieten für Eigentumsimmobilien aus, die sich an der Preisentwicklung von Mietwohnungen und -häusern entwickeln. Und in der Tat könnte der für die EU-Länder errechnete HVPI aktuell höher ausfallen, würde man Immobilien stärker berücksichtigen. Davon geht zumindest das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) aus: Nach Berechnungen der Experten hätte die Inflationsrate in Deutschland zwischen 2015 und 2021 im Schnitt 0,34% über ihrem offiziellen Wert gelegen. Für die Niederlande geht das DIW sogar von 0,65% Steigerung aus.
Ebenso wenig enthalten sind im deutschen HVPI Ausgaben für Glücksspiel sowie der Rundfunkbeitrag. Eines hat der HVPI dem VPI im Hinblick auf Realitätsnähe voraus: Die Gewichtung wird jährlich statt nur alle fünf Jahre angepasst.
Computer, Waschmaschine, Auto: Hohe Kosten, hoher Einfluss
Wieder andere Posten wünscht sich manch einer aus dem VPI heraus. Etwa solche, die üblicherweise nur alle paar Jahre oder Jahrzehnte angeschafft werden: Autos, Computer, Möbel etwa. Derartige Produkte sind, verglichen mit einem Paket Butter oder einem Friseurbesuch, verhältnismäßig teuer und fließen dadurch umso stärker in die Inflationsrate ein. Kritikern zufolge verfälsche das die wahre Teuerungsrate, da sie nun mal unregelmäßig gekauft würden und stattdessen Alltagsgüter wie Lebensmittel weitaus relevanter seien. Auf dieses Argument stützte sich auch der Schweizer Professor Wolfgang Brachinger, als er 2005 in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt ein Experiment wagte: Er entwickelte den Index der wahrgenommenen Inflation. Dabei flossen unter anderem genannte Alltagsausgaben stärker und langlebige Anschaffungen schwächer ein als in den normalen Index – was in diesem Fall eine weit höhere „gefühlte“ Inflationsrate ergab.
Basiseffekt lässt die Lage schlimmer aussehen
Hersteller müssen sich nicht mit Schnäppchenpreisen überschlagen, damit die Inflationsrate sinkt. Nicht selten lassen politische Maßnahmen und Entlastungspakete die Inflationsrate um ein paar Prozentpunkte schrumpfen. Rein rechnerisch gibt es daran nichts auszusetzen: Schließlich reduzieren sich die Ausgaben von Verbrauchern durch die Maßnahmen in der Regel tatsächlich und dazu meist auf breiter Front. Von einer Verzerrung zu sprechen, wäre also falsch. Doch sollten solche Preisbremsen auch nach Monaten oder Jahren nicht in Vergessenheit geraten. Denn sie beeinflussen auch die Inflationsraten der Zukunft.
Erleben konnte man das im Jahr 2021. Als die Bundesregierung während der Corona-Pandemie 2020 temporär die Mehrwertsteuer absenkte, rutschte die Inflationsrate zwischenzeitlich ins Minus. Was mitunter dafür sorgte, dass die Teuerungsrate ein Jahr später auf über 5% kletterte. Die prozentuale Veränderung fiel durch die gesunkenen Preise im Vorjahr also umso höher aus. Statistiker sprechen bei solchen Phänomenen vom sogenannten Basiseffekt. Künstlich gedämpft wurde die Teuerungsrate in den vergangenen Jahren noch von etlichen weiteren Entlastungspaketen: Etwa vom Wegfall der EEG-Umlage im Juli 2022, welche die Menschen nach Beginn des Ukraine-Kriegs vor zu schnell steigenden Strompreisen schützen sollte. Oder vom Aussetzen der Mineralölsteuer im Sommer 2022. Nicht zu vergessen, das 9€-Ticket, welches die Preise für öffentliche Verkehrsmittel über mehrere Monate drastisch senkte.
„Gleiches mit Gleichem“ vergleichen
Ein ewiger Zankapfel in der Debatte um die „wahre“ Inflationsrate sind Produktverbesserungen. Denn zum Missfallen vieler Kritiker werden auch diese vom Statistischen Bundesamt berücksichtigt – und wirken wie eine Preissenkung. Dazu kann es etwa kommen, sobald ein Produkt nicht mehr erhältlich ist oder nur noch wenig verkauft wird, weil inzwischen ein Nachfolgemodell existiert. In diesem Fall muss der Nachfolger mit seinem Vorprodukt verglichen werden – weswegen die Statistiker den Preis „hedonisch“ bewerten: Sie quantifizieren die qualitativen Verbesserungen und ziehen diese vom Preis ab. Eine Kaffeemaschine, die genauso viel kostet wie ihr Vorläufermodell, nun aber auch Milch aufschäumen kann, gilt somit als im Preis gesunken. „Durch Qualitätsbereinigungsverfahren wird somit gewährleistet, dass trotz Produktänderungen bei der Preismessung ‚Gleiches mit Gleichem‘ verglichen wird und somit Preisänderungen als ‚reine Preisentwicklung‘ interpretiert werden können“, erklärt das Statistische Bundesamt auf seiner Website. Nun lassen sich Verbesserungen bei technischen Produkten relativ leicht erkennen. Schwieriger wird es bei Lebensmitteln, Textilien oder Dienstleistungen.
Noch schwieriger auszumachen sind Produktverschlechterungen. Schließlich werden die wenigsten Lebensmittelhersteller mit einer mieseren Rezeptur werben, Bekleidungsunternehmen mit billigeren Stoffen oder Airlines mit einem schlechteren Bordservice. Dennoch versichert die Wiesbadener Behörde, auch solche Änderungen einzubeziehen. Genau wie Fälle sogenannter Shrinkflation: „Verringert zum Beispiel ein Anbieter die Verpackungsgröße eines Produktes bei gleichbleibendem Preis, wird dies in der Preisstatistik wie eine Preiserhöhung behandelt.“
Persönliche Inflation berechnen
Geht die Inflationsrate an der Realität vorbei? Aber ja, und zwar gewaltig. Jedenfalls, wenn mit „Realität“ die Lebenswirklichkeit jedes einzelnen Bundesbürgers gemeint ist. Denn diese kann eine allgemeingültige Durchschnittszahl überhaupt nicht abbilden. Es stimmt sicher, dass die Messmethoden des Statistischen Bundesamts an einigen Stellen ausbaufähig sind. Dass es zu Ungenauigkeiten kommt oder Einmaleffekten, die ein verzerrtes Bild ergeben, die Inflationsrate verharmlosen oder übertrieben erscheinen lassen können. Doch selbst gesetzt den Fall, man würde all diese Schwachstellen beseitigen, bliebe dort eine Zahl stehen, welche völlig an den subjektiven Erfahrungen der meisten Verbraucher vorbeigeht. Es ist daher ratsam, die Inflationsrate als das aufzufassen, was sie ist: ein Durchschnittswert, welcher den allgemeinen Preisanstieg widerspiegeln und Orientierung geben soll. Wie stark einen die Inflation am Ende trifft, wie viel mehr im Monat für das draufgeht, was seit Jahren im Einkaufskorb landet und an welcher Stelle sich sparen lässt, zeigt einem die amtliche Zahl aus Wiesbaden nicht. Für diesen Zweck hat sich die Behörde etwas anderes ausgedacht: einen „Inflationsrechner“, der die persönliche Teuerungsrate ermittelt – und einem die Lebensrealität sozusagen schwarz auf weiß liefert.
Weitere Informationen
Wir haben zum Beginn der Inflation einmal beispielhaft persönliche Inflationsraten aus der Community ausgerechnet. Das siehst du in diesem Video:
Welche Produkte besonders stark im Preis gestiegen sind, zeigt übrigens das Preiskaleidoskop des Statistischen Bundesamts.
Kommentare (3)
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Peter Schulze
sagt am 17. November 2023
Danke, dass Sie auf das manipulative, hedonische Verfahren hingewiesen haben. Die preisdämpfenden "Produktverbesserungen" kann der Einzelne meistens nicht realisieren. Die Produktverschlechterungen, z.B. geplante Obsoleszenz, schon. Es gibt noch weitere "Tricks". Quantitativ, also ein Produkt wird teurer, dann wird unterstellt, dass es weniger gekauft wird und der Anteil wird herabgesetzt. Qualitativ, Rindfleisch wird teurer, dann wird unterstellt, dass der Konsument das günstigere Schweinefleisch kauft. Wesentlich wichtiger ist aber folgende Überlegung: Brauche ich neue Möbel, Klamotten, TV, PC Smartphones usw.. Gerade Möbel und Klamotten kann ich Secondhand für ganz kleines Geld kaufen. Manchmal geschenkt. Aber ich muss Wohnen, Energie beziehen und Lebensmittel kaufen. Leider sind gerade diese Ausgaben exorbitant gestiegen.
P
Peter Meinl
sagt am 17. November 2023
Persönlicher Inflationsrechner: https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Visualisiert/persoenlicher-inflationsrechner-uebersicht.html
A
Anonym
sagt am 17. November 2023
Kann nur empfehlen die eigenen Ausgaben mitzuschreiben, egal in welcher Form. Außerdem für jene die es sich antun wollen und die Mögkichkeiten haben. Eine eigene "grocy"-Instanz aufsetzen. Da sieht man dann genau welches Produkt wie und wo teurer wurde. Und findet eventuell auch das eine und andere Produkt welches man eventuell mal auslassen könnte.
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