Underconsumption: Die neue Askese?
Man ist im Jahr 2024 daran gewöhnt, dass ständig ein neuer Trend durchs Internet schwappt. Es erstaunt einen nicht mehr, wenn sich plötzlich massenhaft Leute wie die Spielzeugpuppe Barbie kleiden („Barbie-Core“), den „Brat-Summer“ ausrufen und giftgrüne Bilder von sich posten oder plötzlich „Cash-stuffen“ und sich selbst Lohntüten für den Monat schnüren. Schon erstaunlich lange stolpert man auf Instagram, TikTok und Co. nun über ein Schlagwort, hinter dem weit mehr steckt als eine kurze Modewelle: „Underconsumption“, zu Deutsch: „Unterkonsum“. Influencer filmen sich dabei, wie sie Shampoo-Flaschen bis zum Ende aufbrauchen, bevor sie neue kaufen, erklären vor der Kamera, dass sie zwei statt acht Paar Joggingschuhe besitzen oder Hosen flicken, statt sie wegzuwerfen. Was für die schillernde Influencer-Welt auffallend gesund klingt, geht einigen Menschen im Netz gehörig gegen den Strich. Zurecht?
Verzicht muss man sich leisten können
Minimalistisch zu leben und den Besitz aufs Nötigste zu reduzieren, ist jedenfalls schon länger angesagt. „Miste aus“, empfahl einem schon vor 15 Jahren die Aufräum-Königin Marie Kondo. Heute erklären unzählige Blogs und Youtube-Kanäle, wie man mit 37 Kleidungsstücken durchs ganze Jahr kommt („capsule wardrobe“) oder möbelfrei wohnt („furniture free“). Plattformen wie Instagram und Pinterest quellen über vor puristisch eingerichteten Wohnzimmern und Küchentheken, auf denen meist nichts weiter als eine gut polierte Edelstahl-Espressomaschine steht. Der Verzicht, so scheint es manchmal, avanciert zunehmend zum Statussymbol. Man besitzt zwar weniger, gibt dafür aber oft trotzdem mehr aus: 60€ für eine handgetöpferte Kaffeetasse statt 20€ für fünf Ikea-Becher zum Beispiel. 50€ für eine einzige Kiehls-All-in-One-Facial Creme statt für 20 verschiedene dm-Produkte. Es klingt paradox, doch oft muss man sich den modernen Verzicht erst einmal leisten können.
Endlich geht es mal nicht um Ästhetik
Der „Underconsumption“-Trend taugt da schon viel eher zum Geldsparen. Man verzichtet nicht aus Ästhetik-Gründen oder um zu Hause klösterliche Leere herzustellen. Es geht darum, weniger Ressourcen zu verschwenden und weniger auszugeben. Alte Make-up-Dosen werden ausgekratzt bis zum Boden, Jacken getragen bis zum totalen Verschleiß und Zahnpasta-Tuben aufgeschnitten, um das letzte bisschen herauszuquetschen. Freilich haben nicht alle Youtuber, Blogger und Influencer die gleiche Messlatte. Wie viel Konsum normal ist und wann es übertrieben wird, bleibt Definitionssache.
„Ist das nicht normaler Konsum?“
Während die einen vor der Kamera Socken stopfen und aus alten Gurkengläsern trinken, Pullover flicken und Pausenbrote für die Arbeit schmieren, um mittags nicht mit den Kollegen ins Restaurant zu müssen, erklären andere stolz, schon seit einem Jahr kein neues iPhone gekauft oder das Paar Sneaker ganze zwei Jahre getragen zu haben. Nicht überall kommt das gut an: „Ich trage meine Sneaker seit acht Jahren“, spottet eine Userin unter einem derartigen Video. Auch das restlose Aufbrauchen von Shampoos und Make-up feiern viele als „Underconsumption“, etwa die Influencerin hinter dem Account „herhealthandfitness“. Dafür erntet sie nicht nur Beifall: „Ist das nicht normaler Konsum?“, wundert sich eine Kommentatorin. „Warum sollte man mehr haben, als man braucht?“
„Ich lebe auch so, aber weil ich arm bin“
Andere meinen: Die Darstellung von angeblicher „Underconsumption“ romantisiere und glorifiziere Armut. Was als Modetrend gefeiert werde, sei für etliche Menschen schlichtweg Alltag, schreiben viele User in den sozialen Netzwerken. Eine Kommentatorin bemerkt unter einem Video: „Ich lebe auch so, aber weil ich arm bin.“ Statt „Underconsumption“ setzen viele Creator deswegen inzwischen den Hashtag „Normal consumption“ unter ihre Beiträge – um zu verdeutlichen, dass es viel mehr normal sein sollte, Dinge erst nachzukaufen, wenn sie kaputtgehen oder leer sind.
Wie lange wird sich der „Underconsumption Core“ halten können? Fakt ist, dass es bereits eine Reihe von Konsum-Gegenbewegungen vor ihm gab. Man denke nur an „Zero Waste“ oder den Hashtag „Deinfluencing“, der ebenfalls seit Kurzem durch die sozialen Netzwerke geistert. Dabei raten Creators bewusst von Produkten ab, statt zu „influencen“, also ihre Zuschauer zum Kaufen zu bewegen. Eine gute Sache, sollte man meinen. Doch haben solche Bewegungen wirklich das Zeug dazu, die Welt ein Stück besser zu machen? Der Umweltaktivist Isaias Hernandez glaubt nicht daran:
„Underconsumption bedeutet im Grunde, der Armut eine nachhaltige Verpackung zu geben“, bemängelt er auf seinem Account „queerbrownvegan“. Der Trend werde nicht lange anhalten, solange er die Leute nicht wirklich dazu bringt, etwas radikaler zu denken, so Hernandez.
Kulturreporterin Christianna Silva sieht es ähnlich und schreibt in einem Beitrag für die britisch-amerikanische Nachrichten-Website „Mashable“: „Die amerikanische Konsumkultur lebt von Unzufriedenheit, und wenn Ihr Versuch, weniger zu konsumieren, rein ästhetisch oder trendorientiert ist, lässt er viel zu wünschen übrig.“ Unterkonsum, so Silva, sei einfach der „neueste Weg, den Konsum zum Mittelpunkt des Lebens zu machen“.
Die Sehnsucht nach weniger ist verständlich
Man kann die Sehnsucht nach weniger Konsum trotzdem nachvollziehen. Die Welt, vor allem die digitale Welt, wird immer schneller und chaotischer, wir sind ununterbrochen erreichbar und umzingelt von blinkenden Bildschirmen. Auf denen präsentieren uns Influencer in wahnsinnig schnellen Schnitten die Klamottenberge vom letzten Online-Shopping und nennen es „Haul“. Oder sie kippen Drogerie-Einkäufe im Wert von mehreren Tausend Euro auf ihrem Boxspringbett aus.
Der Hashtag „Underconsumption“ ist auch eine Antwort auf die Absurditäten der vergangenen Jahre. Auf die schillernde, scheinbar perfekte Social-Media-Welt, in der es normal zu sein scheint, mindestens zehn Winterjacken zu besitzen oder jeden Monat ein paar Hundert Euro für Filler im Gesicht auszugeben. Es stimmt, dass schon jetzt unfreiwillig eine Menge Leute „Underconsumption“ leben – und dass denen der Trend gegen den Strich geht, ist verständlich. Trotzdem wird es kaum schaden, noch mehr Menschen zu einem normalen Konsum zu inspirieren.
Schwärmten nicht schon die großen Denker der Geschichte auf einen reduzierten Lifestyle? „Wie viele Dinge es doch gibt, die ich nicht brauche“, klagte Sokrates vor mehr als 2.000 Jahren und Epikur schrieb: „Mein Körper strömt über vor Leichtigkeit, wenn ich von Brot und Wasser lebe, und ich spucke auf die Freuden des prachtvollen Lebens, nicht ihrethalben wohlgemerkt, sondern wegen der Beschwerden, die sie mit sich bringen.“
Kommentare (7)
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Roland H.E. Wirthner
sagt am 21. Dezember 2024
Ein wirklich guter Artikel zu einer wirklich sinnvollen Lebensweise. Fröhliche Weihnachtsgrüsse aus der Schweiz
B
Benny G
sagt am 21. Dezember 2024
Danke für den Artikel. Ich kaufe mir Kleidung, wenn ich es muss. Ich kaufe mir Essen, wenn ich es muss. Das ist ein Privileg. Sehr viele Menschen auf dieser Welt können das nicht, weils keinen Supermarkt vor der Haustür gibt oder sie sich ihre Kleidung selbst fertigen. Und warum sollte man eine Zahnpastatube wegwerfen, wenn noch was drin ist? Ich verstehe diesen Trend oder was auch immer das sein soll nicht. Einfach mal nachdenken, nicht alles nachmachen, sondern selber auf den Trichter kommen und reflektieren, was man eigentlich so den ganzen Tag an sinnlosen Dingen tut. Die kann man dann abstellen und schon läuft die Sache. So, jetzt stopfe ich mir Weihnachtsgebäck im Überfluss rein!
J
Jotwed
sagt am 20. Dezember 2024
Zurück in die Normalität - würde mir jetzt auch den Trend 'underconsumption' von social media wünschen. Gab's nicht auch mal nen Slogan 'Einfach mal abschalten'?
P
Peter H.
sagt am 20. Dezember 2024
Zitat: „Underconsumption bedeutet im Grunde, der Armut eine nachhaltige Verpackung zu geben“, bemängelt er [Umweltaktivist Isaias Hernandez] auf seinem Account „queerbrownvegan“ Was möchte der Braun vegane queere Umweltaktivist denn bitteschön? Möchte er sich doch lieber über den gelebten (über) Konsum definieren um ein "besserer" Mensch zu sein, irgendwie halt? Es ist sicher nicht angenehm wenn man mangels Geld im Supermarkt nicht die volle Wahl hat und Gekauftes aufbrauchen muss aber es ist trotzdem sparsam und nachhaltig. Ich sehe hier nichts grundsätzlich zu bemängeln! Ich (56) selber schneide die Zahnpastatube auch auf, trage Kleidung und Schuhe möglichst lange, flicke den Fahrradschlauch lieber 5x als 1x neu zu kaufen, schneide vom Paprik Stengl, Kerngehäuse und die weißen Scheidewände weg statt nur drei Fenster rauszuschneiden und 25% Fruchtfleisch wegzuschmeissen, usw. Für mich und meine Frau (die war auch schon so drauf als wir uns kennengelertn haben) ist das normal und keine Einschränkung. Unsere Kinder (28 u. 26) sind schon ausgezogen und haben ihre eigenen Haushalte gegründet. Sie halten es ebenso. Und zwar freiwillig. Freut mich sehr.
R
Rita
sagt am 20. Dezember 2024
Neuer Trend? Oder vielleicht eher das Wiederentdecken alter Tugenden. Ich (62) habe es immer so gehalten, dass ich (zB) die Zahnpastatube aufgeschnitten habe um den Rest rauszuholen, und Kleidung wird getragen bis sie auseinander fällt. Wenn das jetzt bei den Jungen trendet, nur gut! Vielleicht gelingt es dann ja auch, den eigenen Reichtum wahrzunehmen und zu genießen, anstatt sich das nächste „Bedürfnis“ anhexen zu lassen.
A
Anonym
sagt am 20. Dezember 2024
Mein Eindruck, auch aus meinem persönlichen Umfeld, ist, dass sich teilweise Leute arm fühlen die es objektiv nicht sind. Die Wohnung quillt über vor Kram und man fühlt sich trotzdem arm, weil man nicht das Geld hat um alle paar Tage fette Einkaufstüten voll mit neuem Kram nach Hause zu tragen. Da wälzt man dann die Prospekte der Discounter und lässt sich unbemerkt zu mehr Konsum verführen und rechtfertigt das man bei Temu & Co einkaufen müsse… Es gibt auch viel echte Armut, keine Frage. Aber für Viele hat sich durch den permanenten Vergleich mit anderen (gerade auf Social Media) einfach die Vorstellung davon verzerrt was „normal“ ist. Die Ansprüche sind gestiegen und durch den permanenten Vergleich haben Viele das Gefühl im Leben zu kurz zu kommen. Daher begrüße ich den Normal-consumption-Trend sehr. Und noch ein anderer Gedanke: Shopping ist keine sinnvolle Freizeitbeschäftigung und kein geeignetes Mittel gegen Langeweile.
M
Marco
sagt am 20. Dezember 2024
Zusammenfassung: nicht verschwenderisch leben ist gerade ein trendiges Etikett der Geltungssüchtigen.
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