Currywurst und Kampfreden: Zu Gast bei der VW-Hauptversammlung
Es piept und leuchtet wild. Die Dame in der silbernen Softshell-Jacke muss noch mal zurücktreten und ihren Koffer öffnen, der wie ein Röntgenpatient auf dem Band liegt. Eine Nagelschere, zwei Taschenmesser und drei Piccolos holen die Sicherheitsbeamten hervor. „Hier ist wirklich alles dabei“, bemerkt einer der Uniformierten. Die Schlange wird länger, man diskutiert hin und her, und ein paar Minuten später darf die Dame in Silber wieder zusammenpacken. Nein, wir befinden uns nicht am Flughafen, sondern im Messezentrum Süd am Rande von Berlin. Es ist der 16. Dezember und der Volkswagen-Konzern hat zur Hauptversammlung geladen. Auch wenn hier in den nächsten Stunden keine Maschine abheben wird: In die Luft geht der ein oder andere trotzdem. Doch dazu gleich mehr.
Der Ausgang steht von vornherein fest
Man muss erst einmal feststellen, dass wir es hier nicht mit einer normalen Hauptversammlung zu tun haben, zu der Aktiengesellschaften einmal jährlich laden, um ihre Jahresabschlüsse zu präsentieren. Diese Veranstaltung ist außerordentlich und wurde einberufen, weil es etwas aus der Reihe zu besprechen gibt: Volkswagen möchte eine Sonderdividende ausschütten, schon wieder. Bereits im Mai hatten die Aktionäre im Rahmen des Porsche-Börsengangs knapp 7,50€ zugesichert bekommen – jetzt sollen pro Stamm- und Vorzugsaktie weitere 19,06€ fließen. Insgesamt wären das mehr als 9 Mrd. Euro. Die Aktionäre sollen die Pläne nun durchwinken. Und schon vor der Veranstaltung gibt es wenig Zweifel, dass das passieren wird.
Denn die meisten Aktien mit Stimmrecht hält die VW-Dachgesellschaft Porsche SE (53,3%), 20% gehören dem Land Niedersachsen und drittgrößter Anteilseigner ist mit 17% die staatliche Investmentgesellschaft von Katar. Alle drei Parteien sitzen auch im Aufsichtsrat des Konzerns, haben den Vorschlag also zusammen mit dem Vorstand überhaupt erst auf den Weg gebracht. Lediglich 9,7% der VW-Aktien sind im Streubesitz, also auch von kleineren Aktionären handelbar. So wird die Sonderdividende etwas später an diesem Freitag auch mit einer Zustimmung von knapp 99% abgesegnet. Doch das ist nicht das eigentlich Überraschende an diesem Tag. Es ist das, was sich vor der eigentlichen Abstimmung abspielen wird. Auch wenn darauf zu Anfang nichts hindeutet.
Eigenlob und Autowerbung
Morgens um 10 ist die Stimmung noch friedlich, um nicht zu sagen, feierlich. Im Eingangsbereich werden Eintrittskarten gegen Stimmblöcke getauscht, Goody Bags entgegengenommen und Anzughosen glatt gestrichen. Weiter hinten im Catering-Saal ziehen sich die ersten Gäste einen Kaffee, der Geruch von Brühwurst liegt in der Luft und ein paar Dutzend Aktionäre haben es sich vor den überdimensionierten Bildschirmen bequem gemacht, die gleich die Reden übertragen sollen. In der großen Halle zählt derweil schon ein Countdown herunter: Noch 30 Sekunden, bis Aufsichtsratsvorsitzender Hans Dieter Pötsch die Versammlung eröffnen wird. Der Saal verdunkelt sich und die letzten Gäste huschen durch die Sitzreihen.
Auf der Tribüne sind die Plätze schon belegt: Porsche-Sohn Hans Michel Piëch lehnt sich etwas gelangweilt in seinem Sessel zurück und tippt auf dem Handy, neben ihm sitzen Ferdinand Oliver und Wolfgang Porsche. Etwas weiter rechts unter anderem Julia Willie Hamburg aus dem niedersächsischen Kultusministerium, ganz am Rand die ehemalige Ministerin für IT in Katar, Rand Hessa S. Al Jaber und der CEO der Qatar Investment Authority. Stephan Weil, Ministerpräsident von Niedersachsen und ebenfalls Teil des VW-Aufsichtsrats, wird erst eine halbe Stunde später eintreffen, etwas verlegen zu seinem Platz hasten und sich von Wolfgang Porsche den Stuhl auf die richtige Höhe stellen lassen.
Auf der Leinwand flimmert jetzt aber erst einmal ein Werbefilmchen, schnittige Sportwagen schießen durch verlassene Landschaften. Es ist ein Vorgeschmack auf die nächste volle Stunde, die vor allem im Zeichen der Selbstbeweihräucherung stehen wird. Ein paar Formalien und personelle Änderungen werden noch schnell vorgetragen, dann hat Oliver Blume das Wort. Seit diesem Jahr nicht nur CEO von Porsche, sondern auch Chef des Mutterkonzerns Volkswagen. Der 54-Jährige dürfte ahnen, dass seine Doppelrolle später noch mal Thema sein wird – doch vorher soll es um etwas Schönes gehen: Blume führt durch die vergangenen Monate, zählt in Festreden-Manier Errungenschaften und Ziele auf und welchen Herausforderungen man sich jetzt stellen wolle.
Wieder dröhnt laute Musik aus den Boxen und Sportwagen rasen durch die Gegend, zwischendrin Szenen vom Porsche-Börsengang aus diesem Jahr, es werden die Skyline von Frankfurt eingeblendet und Oliver Blume, wie er auf dem Börsenparkett die Glocke läutet. Jetzt ist Arno Antlitz aus dem Finanzvorstand von VW dran, der noch mal den Porsche-Börsengang rekonstruiert und die Sonderdividende begründet. „Meine Damen und Herren: Vor dem Hintergrund dieser außerordentlich erfolgreichen Transaktion freuen wir uns, Sie als Aktionäre angemessen daran teilhaben zu lassen.“ Die geplante Sonderdividende sei nicht zuletzt ein Zeichen dafür, wie gut der Konzern gerade dastehe, sagt Antlitz noch. An dieser Stelle wird die Videoübertragung für die Zuschauer zu Hause abgebrochen, denn jetzt folgt die „Aussprache“: Anwesende Aktionäre können ans Rednerpult treten, Fragen stellen oder gegen die Sonderausschüttung protestieren. Sie mögen sich bitte kurzfassen, bittet der Veranstaltungsleiter noch – und sich bitte nur auf den Tagesordnungspunkt beziehen.
An Kritik mangelt es nicht
Was könnte es gegen ein kleines Geldgeschenk für die Aktionäre schon einzuwenden geben? Tatsächlich wird das Rednerpult beinahe drei Stunden belegt sein. Denn viele Kritiker nehmen den Tagesordnungspunkt lediglich zum Anlass, um zu einer umfangreichen Gegenrede auszuholen. Da ist etwa Aktionär Detlev Stupperich, der den Konzern dazu aufruft, eine Milliarde Euro in die Entwicklung von Elektrofahrzeugen inklusive Infrastruktur zu investieren. Wasserstoff- und E-Fuels hält er für Unfug, „Elektromotoren waren schon vor 120 Jahren die besten Fahrzeugantriebe“ und „spätestens unsere Enkel werden fast nur noch Elektroautos fahren“. Privataktionär Christian Strenger ist da schon mehr beim Thema: Er fordert 21,66€ statt 19,06€ Dividende – zumindest für die Besitzer von Vorzugsaktien, das sei schließlich nur fair. Zur Erinnerung: Vorzugsaktien beinhalten kein Stimmrecht, das heißt, ihre Halter dürfen nicht an den Entscheidungen mitwirken. Das geht nur mit einer Stammaktie. Im Gegenzug dürfen sich Besitzer einer Vorzugsaktie in aller Regel über eine höhere Dividende freuen.
In sich haben es vor allem die Gegenanträge der Stimmrechtsvertreter, allen voran der von Marc Liebscher, Rechtsanwalt und Sprecher der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger, kurz: SdK. Der Verband zählt knapp 8.000 Mitglieder und ist damit eine der großen Aktionärsvereinigungen in Deutschland. Sinn und Zweck solcher Vereinigungen ist es, auch Privataktionären mit nur ein oder zwei Aktien im Depot eine Stimme zu geben – und Einfluss zu nehmen. Wie der genau aussehen soll, ist an den Leitlinien abzulesen, die die Verbände auf ihren Websites veröffentlichen. Das können bestimmte Ansprüche im Hinblick auf den Umweltschutz sein oder auch Zielsetzungen in Bezug auf Arbeits- und Menschenrechte.
„Wir wollen uns keinen Teilzeit-CEO leisten“
Aktionärsschützer Marc Liebscher greift den Volkswagen-Konzern gleich an mehreren Flanken an: Warum die Dividende erst im Januar 2023 ausgeschüttet werden soll, will er wissen – und nicht schon im Dezember. Es ergäben sich für die Aktionäre dadurch steuerliche Nachteile. Zum Beispiel würde die Kapitalertragsteuer für potenzielle Gewinne dann erst im kommenden Jahr anfallen und könnte nicht mehr 2022 für eine Verlustverrechnung genutzt werden. Und ist die Dividende nicht etwas hoch? Steht der Konzern damit wirklich so robust da, wie proklamiert? Der SdK wittert außerdem „Compliance-Schwierigkeiten“ ob der Doppelrolle von Oliver Blume: „Sie sind selbst bei Ihrer Rede hier heute ständig dabei, sich unterschiedliche Hüte aufzusetzen.“ Durch den Börsengang würden Interessenkonflikte noch manifester. „Unser dringender Appell: Beenden Sie diese Doppelrolle so schnell wie möglich!“
An den zwei Jobs des Oliver Blume reibt sich auch der DSW, die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, ebenfalls eine Interessenvereinigung für Aktionäre. DSW-Präsident Ulrich Hocker meint: „Sie haben zwei Fulltime-Jobs: Sie müssen einerseits der Mr. Porsche sein und andererseits der Leiter eines der größten Automobilkonzerne der Welt.“ Ob das nun langfristig so bleiben soll, fragt Hocker. Oder ist das nicht eher eine Übergangsfunktion?' „Wir wollen uns keinen Teilzeit-CEO leisten“, skandiert auch Hendrik Schmidt von der DWS, der Fondstochter der Deutschen Bank, zu der die Xtrackers-ETFs gehören. Hendrik Schmidt repräsentiert mit seiner Kritik also auch Abertausende ETF-Anleger. In gewisser Weise haben die nämlich auch Einfluss auf das Handeln eines Börsenkonzerns.
Auch ETF-Anleger haben eine Stimme
Wer in den MSCI World, in den DAX oder in den S&P Global 100 investiert, hat zumindest indirekt den Bruchteil einer VW-Aktie im Depot. Für die Teilnahme an der Hauptversammlung reicht das nicht, doch übernehmen das eben Fondsgesellschaften wie die DWS. Je nachdem, in wie viele Aktiengesellschaften die einzelnen Vermögensverwalter mit ihren Fonds investiert sind, besuchen Vertreter schon mal ein paar Hundert oder auch mehr als Tausend Hauptversammlungen jedes Jahr. Das Investmentunternehmen Blackrock etwa hat ein ausgewiesenes Team zusammengestellt, das sich allein um die Ausübung der Stimmrechte kümmert. Wieder andere Anbieter geben ihre Stimmrechte an Dienstleister, an sogenannte Proxy Voting Services, die dann im Namen der ETF-Anleger abstimmen. Ein solcher Stimmrechtsberater ist beispielsweise der International Shareholder Service (ISS).
Zu den knapp 2.000 Kunden zählen neben Fondsgesellschaften auch Pensionsfonds, Versicherer und andere institutionelle Investoren. Das Geschäft mit den Stimmrechten ist nicht unumstritten: Der ISS etwa wurde in der Vergangenheit immer wieder für mögliche Interessenkonflikte kritisiert. In seiner Funktion als Berater nimmt der Proxy Advisor nämlich auch Aufträge von börsennotierten Unternehmen an, außerdem gehört er zur Deutschen Börse, die ebenfalls als AG an der Börse gelistet ist. Seit 2007 müssen die Stimmrechtsberater immerhin regelmäßig Bericht darüber ablegen, wie sie arbeiten und ob es mögliche Interessenkonflikte gibt.
Ihre individuelle Meinung können ETF-Anleger also nicht einbringen, sie können nur hoffen, dass die Ansichten der Fondsgesellschaft auch den ihren entsprechen. Doch haben sie in gewisser Weise zumindest einen Einfluss, wenn auch nur einen beschränkten. Die Marktmacht von ETFs macht nach wie vor nur einen Bruchteil im gesamten Börsenuniversum aus.
„Hier etwas auszurichten, ist schwierig“
Wie groß aber ist nun der Einfluss von Privatanlegern, die sich etwa von einer Aktionärsvereinigung wie dem SdK vertreten lassen? „Stimmenmäßig kann man kaum Einfluss ausüben, vor allem nicht bei Volkswagen“, meint Marc Liebscher vom SdK im Anschluss an die Hauptversammlung. Dazu entfalle auch einfach zu viel Macht auf die großen Anteilseigner. „Hier mit den eigenen Stimmrechten etwas auszurichten, ist schwierig“. Dass die Kritik an Großkonzernen aber überhaupt erst nach außen und in die Medien getragen wird, bewirke schon etwas, und wenn es nur Aufmerksamkeit für bestimmte Themen ist: „Damit kann man Volkswagen schon deutlich machen: So wie ihr es macht, geht es nicht.“
Über Gäste wie Marc Liebscher würde sich manch eine Aktiengesellschaft beinahe freuen. Denn die Chefs der Großkonzerne haben es beizeiten auch mit anderen Kalibern zu tun – und werden von sogenannten Berufsklägern heimgesucht. Als solcher machte in der Vergangenheit zum Beispiel der Aktionär Karl Walter Freitag immer wieder Schlagzeilen, das Handelsblatt nannte ihn mal einen „Querulanten aus Leidenschaft“. Mit teilweise nur ein paar Aktien in der Tasche marschiert Freitag seit mehr als 40 Jahren zu deutschen Hauptversammlungen und stimmt entweder für eine Gruppe von Aktionären ab oder auch nur für sich selbst. Ziel ist am Ende ein finanzieller Vergleich: Dazu bemängelt er Formfehler, ficht Entscheidungen an und droht mit Klagen – bis die Aktiengesellschaft nachgibt und ihn mit einer Geldsumme ruhig stellt. Doch das nur am Rande.
Dass er auf der Hauptversammlung konkrete Antworten auf seine Fragen und Kritik bekommen würde, hat Marc Liebscher vom SdK nicht erwartet – und wird deswegen auch nicht enttäuscht. Der Vorstand geht zwar auf jede Frage ein, bedient sich zur Beantwortung aber vorwiegend oberflächlicher Formulierungen. „Frustrierend“, findet Liebscher. „Die Fragen werden professionell abgebügelt, mit nichtssagenden Antworten.“ Allerdings kenne man das von Volkswagen „seit Jahren“. Verglichen mit anderen Aktiengesellschaften sei der Konzern besonders hartleibig.
„Die Antworten finde ich sehr aalglatt“
Auch unter den Privatanlegern, die sich später am Tag bei Currywurst und belegten Brötchen tummeln, macht man sich keine Illusionen. „Man braucht sich nicht vormachen, dass man hier als kleiner Aktionär mit wenigen Aktien einen Einfluss auf irgendwelche Entscheidungen hat“, sagt etwa Tristan, der mit seinem Bruder extra für die Hauptversammlung 250 Kilometer angereist ist. „Ehrlicherweise geht es uns mehr darum, das Erlebnis mal mitzunehmen, nach zwei Jahren Pandemie und hauptsächlich virtuellen Hauptversammlungen.“ Für das Erlebnis ist auch eine andere Aktionärin hergekommen, die an einem der Stehtische lehnt. „Ich dachte, ich nutze mal die Gelegenheit und schaue mir vor Ort an, wie das so abläuft.“ Beeinflussen könne sie mit ihren paar Aktien „sicherlich nichts“ – aber es sei doch interessant, die Reaktionen von Vorstand und Aufsichtsrat zu beobachten. Ihr Resümee: „Die Antworten finde ich doch sehr aalglatt“.
Von schlafenden Aktionären und geklauten Löffeln
Doch offenbar geht es auch anders. Die Erfahrung hat zumindest Lisa Osada gemacht, die seit 2020 den Kanal Aktiengram betreibt und schon so manch eine Hauptversammlung miterlebt hat. Vergangenes Jahr bei Airbus hat sie zum ersten Mal selbst am Mikrofon gestanden und eine Frage gestellt. Eher unfreiwillig, sagt sie und lacht. „Das war noch zu Pandemie-Zeiten und mir war nicht klar, dass man aufgerufen wird.“ Die Antwort auf ihre Frage hat sie dann doch überrascht: „Sehr konkret und gut formuliert. Man hatte das Gefühl, hier wurden sich wirklich Gedanken gemacht.“ Ums Einfluss nehmen geht es aber auch ihr weniger. Viel wichtiger sei das Zwischenmenschliche: „Man lernt das Unternehmen besser kennen und kann Vorstand und Aufsichtsrat beobachten: Sind die im Thema drin an diesem Tag? Haben sie Bock auf ihren Job und überzeugen sie mich mit ihrem Auftreten?“ So hat Lisa Osada auch schon mal eine Aktie aus ihrem Depot verbannt, weil die Präsentation auf der Hauptversammlung sie enttäuscht hat.
Und abgesehen davon erlebe man bei Hauptversammlungen auch immer mal Kurioses. Lisa Osada erinnert sich an Zuhörer, die im Publikum eingeschlafen sind und mit ihrem Schnarchen den Saal unterhalten haben, bis zu Besteck-Diebstählen: „Das kommt gar nicht so selten vor“, sagt sie. Einige Leute hätten offenbar den Eindruck, alles im Saal gehöre ihnen, weil sie die Aktien besitzen. Sie jedenfalls möchte auch in Zukunft die ein oder andere Hauptversammlung erleben – und würde eine solche Erfahrung auch anderen Anlegern ans Herz legen. Und wenn es nur ist, um die eigenen Vorurteile zu überprüfen: „Ich dachte früher immer, dass Hauptversammlungen vor allem langweilig sind. Heute weiß ich, dass das nie der Fall ist.“
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