Was der Absturz der Wirecard Aktie für Anleger bedeutet
Knapp 3 Jahre später schafft das weitgehend unbekannte Unternehmen aus dem 9.000- Seelen-Dorf Aschheim in Bayern den Aufstieg in den DAX, schmeißt kurze Zeit später sogar die Commerzbank aus dem Index und gilt mit einem Börsenwert von 24 Mrd. € fortan als Hoffnungsträger der deutschen Anleger, als Antwort auf amerikanische Tech-Firmen wie Facebook und Amazon. Schließlich überlebte das 1999 gegründete Startup als eines von wenigen Unternehmen schon das Platzen der Dot-Com-Blase, die um die Jahrtausendwende einen Großteil der neu gegründeten “Internet-Firmen” den Bach heruntergespült hat. Heute, gut 20 Jahre später, hat sich das einstige Vorzeige-Unternehmen Wirecard selbst den Bach heruntergespült - indem es den größten Bilanzskandal der deutschen Börsengeschichte losgetreten hat.
Innerhalb von zwei Wochen ist das FinTech so tief gefallen wie kein anderes deutsches Unternehmen zuvor. Mitte 2018 notierte der Kurs von Wirecard noch auf seinem absoluten Höchststand bei etwas mehr als 200€ pro Aktie. Allein innerhalb weniger Wochen ist der Kurs um 98% eingebrochen - die Wirecard-Aktie gibt es jetzt für etwas mehr als 3€ (Stand: 2.7.). Die Firma ist zahlungsunfähig und der Insolvenzverwalter bereits eingeschaltet.
Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Was bedeutet das für die deutsche Börsenlandschaft und vor allem: Wie betrifft das Ganze aktive - aber auch passive Anleger?
Was bisher geschah: die Kurzfassung
Nicht nur das Unternehmen selbst steht dieser Tage am Pranger - sondern auch jene Kontrolleure und Prüfstellen, die Wirecard jahrelang freie Hand gelassen und das Milliarden- Desaster so offenbar erst ermöglicht haben.
Doch gehen wir noch mal einen Schritt zurück und werfen einen Blick auf die Chronologie der unangenehmen Ereignisse:
Nachdem mehrere Financial-Times-Journalisten schon vor Jahren über Ungereimtheiten in den Wirecard-Bilanzen berichteten (und dafür von der deutschen Finanzaufsicht BaFin nicht nur ignoriert, sondern sogar angezeigt wurden), kam das gesamte Ausmaß der Affäre erst jetzt, durch eine Sonderprüfung durch das Beratungsunternehmen KPMG ans Licht: 1,9 Mrd.€ zu viel hat das FinTech in seiner Bilanz für 2019 angegeben. Von dem Geld ist keine Spur - ebenso wenig wie von dem Vorstandsmitglied Jan Marsalek übrigens, den man auf den Philippinen vermutet. Die Wirtschaftsprüfer von EY haben Wirecard wegen ebendieser Luft-Milliarden das Testat für den Jahresabschluss 2019 verweigert, was wiederum Wirecards Gläubiger auf den Plan gerufen hat: Die Banken. Insgesamt sind es 15 Geldhäuser, denen Wirecard zusammen mehr als 1,7 Mrd. € schuldet. Alleine bei der Commerzbank und der LBBW steht das Unternehmen mit jeweils 200 Mio.€ in der Kreide. Die Gläubigerbanken haben dem FinTech wegen des fehlenden Testats die Kredite gekündigt, wodurch Wirecard in die Zahlungsunfähigkeit gerutscht ist und Insolvenz beantragen musste. Das Milliarden-Desaster war damit perfekt.
Ist Wirecard jetzt pleite?
Auch wenn man sich schon Scharen von Wirecard-Mitarbeitern vorstellen mag, die mit gepackten Kartons aus dem Hauptgebäude in Aschheim trotten: Das Ende des Finanz-Startups ist noch nicht besiegelt. Genauer gesagt soll nun ein Insolvenzverwalter prüfen, wie überlebensfähig Wirecard noch ist - und ob der Betrieb tatsächlich demnächst eingestellt werden muss. Ein Weg aus der Krise könnte so aussehen: Hat der Insolvenzanwalt Hoffnung in das Unternehmen, könnte Wirecard mit Investorengeldern aufgepäppelt werden - wenn sich denn welche finden. Aktuell scheint genau das aber gar nicht mal so unrealistisch: Schon einen Tag nach dem Insolvenzantrag meldeten die ersten Großinvestoren Interesse an Teilen der ruinierten Firma, darunter zum Beispiel auch ein Konkurrent: der französische Zahlungsanbieter Worldline.
Derweil zeigt die Berliner Solarisbank Interesse an den Kunden von Wirecard. Man wolle schauen, wie man mit der eigenen Plattform aushelfen könne, so der Solarisbank-Chef am Dienstag im Interview mit einer Nachrichtenagentur. Teile des Unternehmens kaufen will die Solarisbank nach eigenen Aussagen aber nicht.
Eine Klage jagt die nächste
Neben einem Insolvenzverfahren und jeder Menge offener Rechnungen hat der ehemalige Wirecard-Vorstand noch etwas am Hals: Einen Haufen Klagen. Sowohl gegen Vorstandschef Markus Braun (der vergangene Woche bereits im Gefängnis genächtigt hat, bevor er sich freikaufen konnte), als auch gegen den untergetauchten Jan Marsalek und den Wirecard-Finanzchef laufen Verfahren. Ins Rollen gebracht hat sie die Anwaltskanzlei Tilp, die bereits für Tausende VW-Kunden im Dieselskandal klagt. Ein Verfahren läuft allerdings auch gegen die Wirtschaftsprüfer von EY, die Ungereimtheiten in der Bilanz schon vor Jahren hätten entdecken müssen.
Einiges einstecken muss allerdings auch die Aufsichtsbehörde BaFin und mit ihr die DPR (Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung), die eben jene Bonner Behörde für die Bilanzprüfung eingesetzt hat. Den Vertrag mit der offenbar völlig unterbesetzten DPR hat Finanzminister Olaf Scholz inzwischen gekündigt.
Gibt es Hoffnung für die Anleger?
Als der Kurs der Wirecard-Aktie Anfang der Woche plötzlich wieder einen gewaltigen Sprung machte, dürfte das den ein oder anderen Anleger wohl kurz zuversichtlich gestimmt haben. Tatsächlich zeigt das Ganze nur, dass Wirecard inzwischen zum Spielball von Spekulanten geworden ist, die sich an den krassen Kursschwankungen eine goldene Nase verdienen wollen - oder gar an einen Wiederaufstieg von Wirecard glauben. Und dennoch: Während sich die Gläubigerbanken schon auf hohe Abschreibungen (also auf hohe Verlustbuchungen) einstellen, gibt es für Anleger und Aktionäre zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer: Auch sie können (ausnahmsweise) klagen. Denn im Falle Wirecard haben sie - eventuell - ein Recht auf Entschädigung.
Zumindest wenn sich herausstellen sollte, dass Wirecard bewusst falsche Ad-hoc-Meldungen herausgegeben und die Anleger betrogen hat.
Anleger werden als letztes entschädigt
Sollten die Aktionäre dann tatsächlich Schadensersatz bekommen, könnte der allerdings enttäuschend gering ausfallen. Schließlich ist die Schlange der Schuldner lang. Und Aktionäre stehen für gewöhnlich ganz hinten an. Vor ihnen warten hier nicht nur die Gläubigerbanken Commerzbank und Co., sondern auch die Anleihehalter. Sie alle würden als erstes bedient werden - wenn dann bei Wirecard überhaupt noch etwas zu holen ist.
Was tun mit Wirecard-Aktien?
Für Aktionäre, die vor einigen Monaten in großem Stil bei Wirecard eingekauft und auf weiter steigende Kurse gesetzt haben, sieht es ziemlich düster aus. Doch auch Privatanleger, die nur passiv in das FinTech investiert sind, trifft der Bilanzskandal: Noch Mitte Mai hat die Wirecard-Aktie eine Gewichtung von 1% im DAX besessen (inzwischen ist der Anteil auf 0,01% gefallen). Auch die Marktkapitalisierung ist entsprechend geschrumpft: Statt 10,3 Mrd. € (Stand: 15.05.) ist das Unternehmen heute nur noch etwas mehr als 394 Mio. € wert. Wer also zum Beispiel mit 10.000 in einen ETF auf den DAX investiert ist, hat durch den Wirecard-Absturz vor zwei Wochen bis heute etwa 100€ Verlust gemacht.
So schnell wird Wirecard aus dem DAX übrigens nicht verschwinden: Erst im September ändert sich die Zusammenstellung wieder und schwächelnde Unternehmen können durch stärkere aus der Liste verdrängt werden.
Was wir aus dem Desaster lernen
Zwei Dinge lernen Anleger durch den Fall Wirecard doch einmal mehr: Dass eine Wette auf Einzelaktien auch in einer über alle Maßen gehypten Branche wie der FinTech-Szene nach hinten losgehen kann. Zwar sucht ein Skandal wie dieser in der deutschen Börsengeschichte seinesgleichen - abgesichert ist man gegen das Versagen von Unternehmen, Kontrollen und öffentlichen Behörden allerdings nie. Im Falle der Totalpleite von Wirecard, der einen Kursrutsch von beinah 100% in nur einer Woche nach sich gezogen hat, dürften Anleger nicht einen Cent ihres investierten Vermögens wiedersehen.
Wer sein Vermögen möglichst breit gestreut hat (und auch weltweit und über viele Branchen hinweg, statt nur in Deutschland), wird den Absturz des einstigen Börsenstars kaum im Portfolio zu spüren bekommen.
Rückschlag für die deutsche Aktienkultur
Langfristige Schäden wird aller Wahrscheinlichkeit aber auch sie davontragen: Die deutsche Fintech-Szene. Nie war das Vertrauen deutscher Anleger in ein heimisches Startup so groß wie im Falle Wirecard. Endlich gab es abgesehen von Autos, Chemie und Stahl noch ein Produkt, mit dem sich Deutschland in der Welt brüsten konnte.
Diesen massiven Vertrauensverlust jetzt wieder auszubügeln, kann Jahre dauern - und dem ein oder anderen deutschen Startup aus der Digitalbranche ebenfalls Kursrutsche bescheren. Vielleicht aber - und das ist wahrscheinlicher - macht sich nun Wirecards Konkurrenz den Markt des Online-Bezahlens zu eigen - und profitiert von dem Absturz der Firma.
Eines zumindest ist sicher: Selbst wenn der Fall Wirecard in einigen Monaten oder auch Jahren abgeschlossen sein sollte, wird er die deutsche Aktionärskultur doch wohl noch eine Weile begleiten - und bei dem ein oder anderen Sparer einen alten Gedanken hervorholen: “Aktien sind Teufelszeug!”
Kommentare (1)
B
Beat
sagt am 03. Juli 2020
Habe in der Corona-Krise angefangen in ETFs und Aktien zu investieren und mich primär mit Finanzfluss weitergebildet. Habe mit dem MSCI World ESG, dem Dax und dem MSCI EM begonnen. Später dann auch mal Einzelaktien probiert, unteranderem auch 2x Wirecard für zusammen 160€ gekauft… Zum Glück bin ich durch die ETFs breit gestreut, trotzdem tut mir die Wirecard-Pleite zu Beginn des Investierens sehr weh. Lasse dashalb erstmal die Finger von Einzelaktien. Bahalte die 2 Wirecard Aktien jetzt noch, da sie eh kaum was Wert sind. Vllt. schafft es das Unternehmen ja. Oder ist es komplett unrealistisch, dass die Aktien in ein paar Jahren wieder steigen?
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