Fatale Zins-Prognosen
Warum man auf die Vorhersagen von Experten nicht viel geben sollte
Fast 40% der Deutschen lassen sich gern die Zukunft voraussagen. Sie lesen – wenn auch unregelmäßig – ihr Horoskop, wie 2021 eine Studie von Statista ergab. Was die Klatschzeitschrift im Wartezimmer liefert, bietet auch die Wirtschaftswelt. Die Horoskope der Finanzindustrie heißen Zins-Prognosen. Erstellt werden sie von Ratingagenturen, den Chefökonomen der Großbanken, von den Analystenteams der FED oder der Kreissparkasse am Marktplatz. Statt um Liebe und Karriere geht es um Hypothekendarlehen, Anleiherenditen und den 3-Monats-Euribor. Basis sind keine Sterne und Planeten, sondern hochkomplexe Berechnungen. Doch eines haben die Horoskope gemeinsam: Ihre Verfasser liegen die meiste Zeit voll daneben.
Rauf, runter, gleichbleibend? Wo die Zinsen stehen, hat Folgen
Steigen die Zinsen noch weiter? Bleiben sie noch eine Weile konstant oder stürzen sie gar in den nächsten Monaten massiv ab? Solche Fragen interessieren nicht nur große Vermögensverwalter und Finanzpolitiker, sondern auch Privatanleger brennend. Schließlich beeinflussen die Zinsen, will heißen: die Leitzinsen der Zentralbanken, so einiges: Sinken sie, verbilligen sich zum Beispiel Kredite, was Darlehensnehmer freuen dürfte. Sichere Anlagen wie Tagesgeld oder Staatsanleihen solventer Länder werden durch hohe Zinsen rentabler, in Niedrigzinsphasen werfen sie ernüchternd wenig ab. Dafür können niedrige Zinsen die Börsenkurse beflügeln und für steigende Kurse sorgen. Könnte man tatsächlich in die Zukunft blicken, würde dies Anlegern also vieles erleichtern. Wüsste man etwa sicher, dass die Zinsen bald steigen, könnte man sich jetzt noch schnell den günstigen Immobilienkredit sichern, statt das Investment weiter hinauszuzögern. Das Wissen um demnächst sinkende Zinsen könnte man nutzen, um sich vorher ein üppig verzinstes Festgeldkonto einzurichten. Das einzige Problem ist: Die Zinsen lassen sich nur schwer vorhersagen. Denn auch die renommiertesten Finanz-Koryphäen sind nun mal keine Hellseher.
Nicht alle können recht haben
Das zeigt sich schon bei einem kurzen Blick auf die Prognosen verschiedener Akteure. Ende 2023 gaben die US-Großbanken Morgan Stanley und Goldman Sachs sowie die US-amerikanische Zentralbank Federal Reserve (FED) ihre Einschätzungen zur Entwicklung der Zinsen ab. Während Morgan Stanley für 2025 einen Leitzins von 2,375% voraussagt, geht Goldman Sachs von 4,0% bis 4,25% und die FED von 3,9% aus, wie das Magazin Institutional-Money berichtet. Gut möglich, dass einer der Akteure richtig liegen wird. Doch mindestens einer wird mit seiner Einschätzung daneben liegen.
Postbank unterschätzte die Entwicklung massiv
Auch kleinere Geschäftsbanken wagen bisweilen den Blick in die Zukunft. In offiziellen Statements passiert das eher selten. Wenn doch, trifft man auf vorsichtige Formulierungen: Die Postbank wagte es im Dezember 2021. Für das darauffolgende Jahr prognostizierte sie einen „leichten Anstieg der Hypothekenzinsen“. Außerdem hieß es damals: „Mit einer Leitzinserhöhung ist im neuen Jahr im Euroraum noch nicht zu rechnen.“ Es sollte bekanntlich anders kommen: Im Laufe des Jahres 2022 hob die EZB den Leitzins sogar mehrmals an. Zwischen Januar und Dezember stieg er von 0% auf letztlich 2%. Mit den Hypothekenzinsen ging es noch kräftiger bergauf. Lagen diese für ein durchschnittliches Darlehen mit 10-jähriger Sollzinsbindung im Januar 2022 noch bei 1%, stiegen sie nach Informationen des Baufinanzieres Interhyp bis Ende des Jahres auf ganze 3,7%. Eine „leichte“ Erhöhung sieht anders aus.
Die Schweizer Zeitschrift K-Geld hat für die Eidgenossenschaft einmal frühere Zins-Prognosen von Banken mit der Realität abgeglichen. Das Ergebnis: Zwischen 2005 und 2013 irrten sich die Großbanken Credit Suisse, Julius Bär, UBS, Unicredit und ZKB auffallend oft. So hatten beispielsweise alle fünf Institute im Schnitt für Sommer 2009 einen durchschnittlichen Hypothekenzins von 4,3% prognostiziert. Am Ende stand dieser bei gerade einmal 2,5%. Für den Sommer 2012 sagte man durchschnittlich 3,5% Zinsen voraus – tatsächlich zahlten Kreditnehmer am Ende im Schnitt nur 1,5% für ihr Darlehen.
Falsche Erwartungen können Bankkunden teuer zu stehen kommen
Täuschen sich Geschäftsbanken bei ihren Zinsvorhersagen, muss das den Instituten nicht zwingend schaden – im Gegenteil. Lässt sich ein Darlehensnehmer in Erwartung steigender Zinsen seinen aktuellen Zins festschreiben und geht es anschließend – wider Erwarten – bergab, bedeutet das ein gutes Geschäft für die Bank. Gleiches gilt bei Prognosen in die andere Richtung: Überzeugt der Bankberater seinen Kunden, jetzt noch schnell eine Lebensversicherung abzuschließen, bevor die Zinsen womöglich wieder sinken, spart sich die Bank – sollte es anders kommen – die Auszahlung vergleichsweise hoher Guthabenzinsen. Sich auf die Zins-Prognosen der hiesigen Geldhäuser zu verlassen, kann Kunden unter Umständen teuer zu stehen kommen.
Ein Beispiel: Eine Kundin möchte sich ein Auto kaufen, die Effektivzinsen für einen Kredit über 30.000€ liegen bei ihrer Bank aktuell bei 7%. Weil sie von weiter steigenden Zinsen ausgeht, nimmt sie das Angebot der Bank an und schreibt den Zins für fünf Jahre fest. Über fünf Jahre zahlt sie nun jeden Monat 594€ an die Bank, davon sind insgesamt knapp 5.640€ Zinsen. Sinken die Zinsen kurz darauf auf 5% und verharren dort für mindestens fünf Jahre, dürfte sich die Darlehensnehmerin ärgern. Hätte sie abgewartet, beliefe sich ihr gesamter Zinsaufwand auf 3.970€ statt auf 5.640€.
Nun ist es nicht so, dass sich die Geldhäuser durchweg verkalkulieren. Die Research-Abteilung der Deutschen Bank etwa landete mit ihrer Zins-Prognose von Dezember 2022 beinahe eine Punktlandung. Für Mitte 2023 prognostizierte sie einen US-Leitzins von knapp über 5%. Bis Juli 2023 erhöhte die FED den Leitzins von 5,0% auf 5,5%.
Deutsche Bank US-Leitzins-Prognose Dezember 2022
Selbst die FED vertut sich
Dass selbst die hochrangigsten Finanz-Profis hin und wieder auf dem Holzweg sind, zeigen Zahlen, die das St. Louis Trust & Family-Office ausgegraben hat. Dessen Chefstratege John Jennings sammelte für einen Beitrag im Forbes Magazine Ende 2023 sämtliche Zinsprognosen der letzten Jahre des sogenannten Federal Open Market Committee, kurz FOMC, und verglich sie rückblickend mit den tatsächlichen Entwicklungen. Die insgesamt 19 Mitglieder, darunter sieben Gouverneure des Fed-Vorstands und die Präsidenten der zwölf Regionalbanken, hatten jeweils viermal im Jahr ihre Prognosen zur Entwicklung des US-Leitzinses abgegeben. Lediglich 2021 lagen alle 19 Mitglieder mit ihrer Prognose richtig, der US-Leitzins stand im Dezember bei 0,25%. 2022 unterschätzten alle Experten die Entwicklungen massiv. Niemand rechnete mit Leitzinsen über 0,75%. Am Ende des Jahres übersprang der US-Leitzins die 4,5% Marke. Noch im darauffolgenden Jahr glaubte das Komitee an Erhöhungen auf maximal 1,5%. Monate später knackte der Leitzins die 5,5%-Marke.
„Sogar die Federal Reserve mit ihrem Team aus Hunderten promovierten Wirtschaftswissenschaftlern und dem Zugang zu jedem Bissen relevanter Wirtschaftsdaten war bei der Vorhersage von Zinssätzen nicht besonders gut“, schlussfolgert Autor John Jennings. Und: „Wenn die Fed mit all ihren Ressourcen es nicht gut machen kann, wie groß sind dann die Chancen, dass wir – unser Finanzberater, Banker oder Kommentator bei CNBC – einen besseren Job machen?“
Die Zukunft ist nicht kalkulierbar
Sich bei der eigenen Geldanlage von den Erwartungen von Investmentbankern, Analysten, Bankberatern oder gar anderen Anlegern lenken zu lassen, wäre in etwa so klug, wie das Leben nach dem Horoskop in der Illustrierten auszurichten. Nicht, weil die Akteure keine Ahnung hätten. Sie können schlichtweg – genauso wenig wie alle anderen Menschen – wissen, was die Zukunft bringen wird. Ob Kriege oder Pandemien ausbrechen, Länder in Rezessionen stürzen oder Inflationsraten in die Höhe schießen werden. „Der Markt, die FED und Investmentbanken liegen reihenweise falsch“, meint Professor Holger Graf, der früher Derivatebanker bei Goldman Sachs war und heute Finanzmanagement in Süddeutschland lehrt. Es bringe wenig, sich an einzelnen Instituten zu orientieren, die in der Vergangenheit vielleicht mal richtig getippt haben. „Mal liegt die eine Bank richtig, mal eine andere.“ Komplett ignorieren würde Graf die Prognosen aber auch nicht. „Es spricht nichts dagegen, einen Blick auf die langfristigen Zinsen zu werfen, bevor man sich für zehn Jahre oder länger einen Bauzinssatz ans Bein bindet.“, wie grundsätzlich gelte aber dasselbe wie für Aktienmarkt-Prognosen: Niemand weiß sicher, was die Zukunft bringen wird.
Kommentare (1)
B
Bastian
sagt am 21. Januar 2024
Hmm also ich weiß nicht. Vorab - ich bin beim Thema Leitzins selbst ein absoluter Laie. Nur wenn ich mir zB die tägliche Einordnung des Marktgeschehens bei Markus Koch anhöre, wird da schon regelmäßig thematisiert, wie sich der Leitzins im Laufe der kommenden 3-12 Monate entwickeln dürfte. Und das Credo (so wie ich das zumindest verstanden habe) ist doch, das Jerome Powell & dessen Team bei der FED regelmäßig über ihre Rhetorik vermittelt, wie sie die kommende Festsetzung des Leitzinses angehen möchten. Natürlich ist das alles immer recht wage, aber das Prinzip ist dort doch, dass man den Markt gewissermaßen vorbereiten möchte. Zuletzt beispielsweise, als man der Euphorie starker Zinssenkungen in 2024 rhetorisch entgegenwirkte, und darauf Wert legte, dass sich hier keine falschen Erwartungen im Markt manifestieren sollen. In der Folge versucht die FED es doch auch möglichst zu vermeiden, dem Markt eine kalte Dusche zu verpassen in Form von völlig konträr zur Erwartungshaltung durchgeführter Zinsanpassungen. Ich bin da voll bei euch - bei den von euch erwähnten Beispielen von Kapitalentscheidungen, die sich über mehrere Jahre hinwegziehen, hilft einem das nicht weiter, da die Prognosen ja laufend korrigiert werden. Aber wenn man (wie ich) eher Trades aufsetzt, die ein paar Tage bis Wochen oder maximal einige Monate laufen sollen, dann hilft mir die derzeitige Einschätzung der Leitzinsentwicklung schon weiter. Zumal, da sie - bei einem vglsweise kurzfristig betrachteten Zeitraum - oft nah an der akkumulierten Einschätzung einschlägiger Finanzexperten liegt?
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